Die Glocke
Die Glocke, deren Klang auf so ergreifende Weise ersehnt wird, hat eine Stimme, die den Menschen aus allen Einmauerungen mitnehmen will in die Weite und Höhe Gottes, in ein Leben in Fülle.
In den Städten hört man heute die Glocken kaum. Ihr Schall wird von den Mauern der hohen Häuser verschluckt. Sogar die Pummerin, die Riesenglocke des Wiener Stephansdoms, ist nicht auf weite Distanz zu hören. Und in Salzburg hört man die mächtigen Domglocken weniger weit als das aufdringliche Geschmetter der kleinen Glocke des Kapuzinerklosters hoch über der Stadt. Anders ist es in den Dörfern, wo die Menschen auch heute auf die Glocken hören und große materielle Opfer bringen, damit die Glockenstube des Kirchturms nicht leer sei.
„Vivos voco, mortuos plango, fulgara frango“ lautet ein alter Glockenspruch: „Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, die Gewitter zerschlag’ ich.“ Gewitter müssen heute kaum noch von den Glocken zerschlagen werden. Hagelkanonen und ähnliches haben diese Aufgabe übernommen. Das Beklagen der Toten ist aber auch heute ein Dienst, der den Glocken aufgetragen ist und viele Menschen zu hohen Spenden für die Anschaffung neuer Glocken veranlasst. Der Gesang aller Glocken begleitet in den Landpfarren den Trauerzug.
Die Glocken wollen und sollen aber vor allem die Lebenden rufen zu Gebet und Gottesdienst. Seit dem 7. Jahrhundert läuten sie am Morgen und am Abend und laden ein zum Gebet. Später kam das Mittagläuten hinzu. Die Glocken waren also mehr als die Uhren der armen Leute. Sie waren Mahner und Rufer zum Gebet. Menschen, die nicht beten, brauchen die Glocken nicht und wollen sie oft nicht hören. Aus Nachbarländern kamen in den letzten Jahren mehrmals Nachrichten über Prozesse, die Nachbarn alter und neuer Kirchen gegen das Glockengeläute angestrengt hatten.
Die Glocken laden auch ein zum Gottesdienst, zur Feier der Eucharistie. Sie sind Boten der Einladung Christi vom ersten Gründonnerstag: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ Wer Ohren hat, zu hören, der höre. Wer Füße hat, zu gehen, der gehe. Und wer hungrig ist an Leib und Seele, der komme. Vielen Menschen läuten die Glocken vergebens. Sie verstehen nicht recht, was im Gottesdienst gefeiert wird. So werden mancherorts auch die Glöckner müde. Sie läuten seltener. Sie drücken nicht einmal mehr regelmäßig auf die Knöpfe der elektrischen Läuteanlagen. Fastenzeiten können lange dauern. Sie dauern aber nicht ewig. Die vier Ministranten, die ich bei meinem Besuch in einer alten kleinen Landkirche an den Glockenseilen mit vor Eifer geröteten Gesichtern auf- und niederfahren sah, sind – so hoffe ich – nicht letzte Mohikaner, sondern eine Vorhut von Menschen, die die alten Zeichen, auch die Glocken, wieder verstehen lernen und beachten wollen.
Bischof Egon Kapellari
entnommen aus: Heilige Zeichen, Styria