Der Weihrauch
„Wie Weihrauchduft steige mein Gebet zu dir empor“, sagt der Beter des 141. Psalms zu Gott und macht so deutlich, dass der Weihrauch im Judentum wie in der christlichen Kirche vor allem ein Ausdruck des Gebetes ist.
Der echte Weihrauch entsteht durch Verbrennen eines Harzes, das in Gestalt gelber Tropfen der Rinde des Boswelliabaumes entquillt. In der Antike war der Gebrauch dieses Harzes und anderen Räucherwerks nicht auf den Gottesdienst beschränkt. Man erfüllte ebenso die Wohnungen wie die Tempel mit den Duftwolken verbrennender Harze. Die Beräucherung erbrachte einen Duft, „der das Antlitz erfrischt“. Man erfreute so Menschen und verband damit auch hygienische Zielsetzungen. Der Weihrauch diente aber auch zur Ehrenbezeugung für den Herrscher und für die Götter.
Von großer Bedeutung war der Weihrauch im Tempelgottesdienst des Volkes Israel. Auf dem Rauchopferaltar und im Rauchfass, mit welchem der Hohepriester einmal jährlich – am großen Versöhnungstag – das Allerheiligste, den innersten Raum des Tempels, betrat, wurde zusammen mit anderem Räucherwerk auch Weihrauch verbrannt. Die Rauchwolke über dem Altar war ein Symbol der Anbetung Gottes. Die Wolke rings um die Bundeslade im Allerheiligsten war hingegen ein Ausdruck der Versöhnung mit Gott und ein Schutz für den Hohepriester, der den Thron der Herrlichkeit Gottes nicht unverhüllt schauen sollte.
Die Christen verwendeten den Weihrauch in ihren Gottesdiensten zunächst nicht, weil es ihr Anliegen war, sich vom Heidentum möglichst deutlich zu unterscheiden. Mit dem Verschwinden des Heidentums fand der Ritus der Beräucherung in Anlehnung an jüdische Liturgie bald Eingang in den christlichen Gottesdienst.
Die Pilgerin Aetheria berichtet, dass um 390 im sonntäglichen Gottesdienst in Jerusalem Räucherwerk herein getragen und so die ganze Auferstehungsbasilika mit Wohlgeruch erfüllt wird. Dem Papst gingen beim Einzug zum Gottesdienst bald schon sieben Leuchterträger und ein Subdiakon mit dem Rauchfass voran. Seit dem 9. Jahrhundert wird es üblich, am Beginn der Messe Rauchwerk darzubringen, und ab dem 11. Jahrhundert wird an dieser Stelle der Altar inzensiert 1. Reicher entfaltet ist seit dem 11. Jahrhundert die Beräucherung der Opfergaben Brot und Wein, die dreimal bekreuzend und dreimal umkreisend inzensiert werden, sowie des Altares und der liturgischen Gemeinde.
Der Weihrauch soll alles in eine heilige Atmosphäre des Gebetes hüllen, das wie eine Rauchwolke aufsteigt zu Gott. Die Liturgie der Kirche nimmt damit Elemente der himmlischen Liturgie auf, wie sie im letzten Buch des Neuen Testamentes, der Apokalypse, durch den Seher Johannes beschrieben wird. Er sah 24 Älteste, die vor dem Lamm Gottes standen, mit Harfen und goldenen Schalen voll Weihrauch – „das sind die Gebete der Heiligen“ (Offb 8,3f).
Bei der feierlichen Weihe eines Altares wird nach der Salbung der Altarplatte ebenfalls Räucherwerk verbrannt, und zwar an fünf Stellen des Altares. Der Bischof deutet dies mit den begleitenden Worten: „Herr, wie Weihrauch steige mein Gebet zu dir empor. Und wie dieses Haus mit wohlriechendem Duft sich füllt, so erfülle der Wohlgeruch Christi deine Kirche.“
Weihrauch findet schließlich auch Verwendung bei der Totenliturgie. Die Verstorbenen bleiben ja Glieder am mystischen Leib Christi, die geheiligt sind durch den Empfang der Sakramente. Darum wird ihr toter Leib durch Weihrauch geehrt, wie die Frauen am Ostermorgen den Leichnam Jesu durch Salbung mit kostbaren Ölen ehren wollten.
In der Zeit liturgischer Veränderungen nach dem Konzil wurde vielerorts auf das überkommene Symbol des Weihrauchs verzichtet. Indem man voreilig meinte, damit ein aus dem Heidentum übernommenes Zeichen preiszugeben, gab man einen Brauch des jüdischen Gottesdienstes preis, und dazu eine vielhundertjährige Übung der Kirche. Solche gut gemeinte Einfachheit missrät leicht zur dürren Kargheit. Der Mensch darf und soll Gott nicht nur mit dem Verstand und dem Wort loben, sondern auch mit ergänzenden Zeichen. Die Liturgie will und darf ein Gesamtkunstwerk gläubiger Phantasie sein, in welchem auch der Weihrauch einen unbestrittenen Platz hat.
Bischof Egon Kapellari
entnommen aus: Heilige Zeichen, Styria
© alle Fotos: Franz Josef Rupprecht/kathbild.at
1 inzensieren = beweihräuchern