Paulus – Informationen zu Person und Theologie des Apostels | Teil 2
Wofür der junge Paulus lebte
Paulus verschwieg nie, dass und weshalb er zuvor die Christen verfolgt hatte. Es war der Eifer für das Gesetz und die väterlichen Überlieferungen gewesen, der ihn zum unerbittlichen Feind der beginnenden Kirche gemacht hatte:
Ihr habt doch von meinem früheren Lebenswandel im Judentum gehört und wisst, wie maßlos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte. Im Judentum machte ich größere Fortschritte als die meisten Altersgenossen in meinem Volk und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein. (Gal 1,13f)
Wenn wir also das Verhalten des Paulus vor seinem Damaskuserlebnis recht verstehen wollen, sollten wir zuerst fragen, weshalb das Gesetz für Paulus denn so wichtig war – so wichtig, dass er sich der Gemeinschaft der Pharisäer anschloss (vgl. Phil 3,5).
Das Gesetz (die Tora) – eine Hilfe zum Leben
Es war das Gesetz selbst, die Tora, das heißt die Weisung (Gottes), das Paulus daran hinderte, es auf die leichte Schulter zu nehmen; denn schließlich las er darin auch folgendes Vermächtnis des Mose an Israel:
Siehe, hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor, nämlich so: Ich selbst verpflichte dich heute, den HERRN, deinen Gott, zu lieben, auf seinen Wegen zu gehen und seine Gebote, Satzungen und Rechtsentscheide zu bewahren, du aber lebst und wirst zahlreich und der HERR, dein Gott, segnet dich ... (Dtn 30,15f)
Und zunächst sagte ihm wiederum seine Bibel, dass alle Katastrophen, die Israel getroffen hatten, letztlich durch die Missachtung des Gesetzes verursacht worden waren. Doch nicht nur die Heilige Schrift sagte Paulus, dass die Missachtung des Gesetzes für sein Volk immer nur negative Folgen haben konnte. Er musste nur in seine eigene Umgebung schauen, um zu sehen, wozu die Gleichgültigkeit dem Gesetz gegenüber führt: zu Ungerechtigkeit, Habgier und Bosheit, zu Neid, Mord und Streit, zu Unzucht, Götzendienst, Jähzorn und Eigennutz (vgl. Röm 1,29–31). Es bedurfte keines großen Scharfsinns, um entdecken zu können, dass überall dort, wo das Gesetz Gottes übertreten wurde, die menschliche Gemeinschaft nicht vorangebracht wurde, sondern Schaden nahm! Weil Gott nicht will, dass wir Menschen durch unsere falschen Entscheidungen das Leben in der Welt zerstören, weist er uns in der Tora den rechten Weg.
Wenn also Paulus von sich schreibt, dass er in der Treue zum jüdischen Gesetz die meisten Altersgenossen in seinem Volk übertroffen habe und dass er sich mit größtem Eifer auch für die väterlichen Überlieferungen eingesetzt habe (vgl. Gal 1,14), dann zeigt sich uns in diesem Bekenntnis ein junger Mann, der sein Volk und dessen Geschichte insgesamt bejahte und für den es überaus wichtig war, dass das Volk Israel inmitten aller anderen Völker in der Treue zu seinen Vätern den Weisungen Gottes entsprechend sein Leben gestaltete.
Auf dem Weg nach Damaskus
Paulus war nicht der einzige gewesen, der sich gegen die Christusverkündigung der Hellenisten gewehrt hatte. Nicht zufällig weist Lukas dem jungen Paulus bei der Steinigung des Stephanus nur eine Statistenrolle zu (vgl. Apg 7,58). Doch während die Empörung der Jerusalemer Juden gegen die Hellenisten rasch abflaute, nachdem sie aus Jerusalem vertrieben waren (Apg 8,1), hatte sich Paulus die Ausrottung der Christen (Gal 1,13; Apg 8,3) auf die Fahne geschrieben. Dieses Vorhaben führte ihn auch nach Damaskus (Apg 9,1f; vgl. Gal 1,17). Und dabei geschah es: Da offenbarte sich ihm Jesus von Nazaret, der Gekreuzigte, den Gott aus den Toten auferweckt hatte! In Gal 1,15f beschreibt er das so:
Als es aber Gott gefiel, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, in mir seinen Sohn zu offenbaren, damit ich ihn unter den Völkern verkünde …
Natürlich würden wir gerne noch genauer wissen, was sich in diesem Moment ereignet hat; wir können aber nur feststellen: seit diesem Augenblick gab es für Paulus keinen Zweifel mehr daran, dass der am Kreuz hingerichtete Jesus von Nazaret der Messias ist, den Gott als seinen Sohn aus dem Tod erweckt und zu sich erhöht hat. Und seit dieser Zeit sah Paulus nicht nur das Gesetz und die Überlieferungen seiner Väter in einem ganz neuen Licht, seitdem wusste er sich auch als „Knecht Christi Jesu“ (Röm 1,1) mit der Botschaft des Evangeliums zu den Völkern gesandt (vgl. Gal 2,7-9) – gleich dem Gottesknecht, von dem es im Propheten Jesaja heißt:
Hört auf mich, ihr Inseln, merkt auf, ihr Völker in der Ferne! Der HERR hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt. … Und er sagte: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht der Nationen; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht (Jes 49,1.6)
Wer also Gott weiterhin in der Art und Weise dienen will, wie die Tora es befiehlt, findet nicht in die Nachfolge Jesu Christi. Dies aber bedeutete für Paulus: Jesus setzt den Weg, auf den das Gesetz Israel bislang gewiesen hat, nicht bruchlos fort. Mit Jesus Christus geht es nicht „einfach so weiter“. Er ist das Ende des Gesetzes (Röm 10,4). Wenn Paulus sagt: „Christus ist das Ende des Gesetzes“, dann behauptet er: Christus ist das Ende jenes Weges, auf dem sich Israel bislang bemühte, im Gehorsam gegen Gott das Leben zu gewinnen. Es wäre daher verfehlt, versuchte man auch weiterhin, mit Hilfe des Gesetzes das von Gott gewollte Heil in dieser Welt heraufzuführen.
Weshalb das so ist, begründet Paulus in seinen Aussagen zur Gerechtigkeit Gottes.
Gottes Gerechtigkeit …
Zu den Wörtern, die wir heute anders verstehen als die Menschen der Bibel, gehört auch das Wort „Gerechtigkeit“. Für uns besteht die Gerechtigkeit eines Menschen darin, dass er korrekt einem jeden das Seine gibt und dass er sich seinen Mitmenschen gegenüber nicht willkürlich verhält. Für die Menschen in Israel bestand die Gerechtigkeit eines Menschen hingegen darin, dass er jenen Verpflichtungen gerecht wurde, die er freiwillig eingegangen war oder bereits in seinem Leben vorgefunden hatte. Ein Familienvater beispielsweise war dann gerecht, wenn er seinen Verpflichtungen als Ehepartner, als Vater und als Sohn von alten Eltern gerecht wurde.
Eine entsprechende Vorstellung hatten die Menschen in Israel auch von der Gerechtigkeit Gottes; Gottes Gerechtigkeit bestand darin, dass er seinen Verpflichtungen als Bundesherr Israel gegenüber gerecht wurde, und so waren Gottes Gerechtigkeit und Gottes Hilfe in den Augen Israels ein und dasselbe.
Israels Gerechtigkeit hingegen bestand darin, dass es Gottes Willen gerecht wurde, hatte es sich doch am Sinai bereit erklärt, auf Gottes Weisungen und Gebote zu hören. So verstand auch Paulus die Gerechtigkeit. Und doch – seit Damaskus hatte dieses Wort für ihn einen ganz neuen Inhalt!
… und unsere Rechtfertigung
Nun hatte Paulus im Licht von Damaskus erkannt, dass Gott letztlich nur eines will: uns Menschen in Jesus sein Leben schenken, damit wir aus ihm die Kraft für ein gutes Leben schöpfen. Damit veränderte sich aber auch seine Antwort auf die Frage: „Wann handelt ein Mensch in Gottes Augen recht?“
Es ist der Römerbrief des Apostels Paulus, in dem wir sowohl der eben gestellten Frage als auch einer Antwort darauf begegnen. Paulus schreibt:
Denn darin gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Denn alle haben denselben Herrn; aus seinem Reichtum beschenkt er alle, die ihn anrufen. Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden. Wie sollen sie nun den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündet? Wie soll aber jemand verkünden, wenn er nicht gesandt ist? Wie geschrieben steht: Wie willkommen sind die Füße der Freudenboten, die Gutes verkünden! (Röm 10,12–15)
Zusammenfassung
Das heißt: Paulus erkannte im Lichte von Damaskus, dass es nach Gottes Willen nur noch um eines gehen kann: dass alle Menschen den Zugang zu Jesus Christus finden. Grund genug, um allen Menschen das Evangelium zu verkünden, Juden und Heiden.
Univ.-Prof. Dr. Michael Ernst,
Universität Salzburg und Päpstliche Hochschule Heiligenkreuz