Sag uns Maria, was hast du gesehen
Ostersequenz
Singt das Lob dem Osterlamme,
bringt es ihm dar, ihr Christen!
Das Lamm erlöst die Schafe:
Christus, der ohne Schuld ist,
versöhnt die Sünder mit dem Vater.
Tod und Leben duellieren sich in wunderlichem Kampf.
Der Fürst des Lebens, gestorben, herrscht nun lebend.
Sag uns Maria, was hast du gesehen am Weg?
Das Grab des lebenden Christus
und die Herrlichkeit des Heraufsteigenden sah ich.
Engel als Zeugen, das Schweißtuch und die Leinenbinden.
Auferstanden ist Christus, meine Hoffnung,
voraus geht er den Seinen nach Galiläa.
Wir wissen, dass der Herr erstanden ist,
wahrhaft von dem Tode.
Du Sieger, König, hab Erbarmen mit uns!
(Übersetzung P. Oliver)
Die „Sequenz“ in der Liturgie
Um die Bedeutung gewisser kirchlicher Feste zu unterstreichen, entwickelten sich in der Liturgie des Mittelalters die sogenannten Sequenzen. Diese folgten (lateinisch: „sequi“) auf das klassische Halleluja vor der Verkündigung des Evangeliums in der heiligen Messe. Von daher ist der Begriff Sequenz zu verstehen. Die Aussage des anschließend zu Gehör gebrachten Abschnittes aus den Evangelien wird dabei gleichsam vorab in feierlich-hymnischer Sprache zusammengefasst dargestellt. Gab es zunächst eine ganze Reihe solcher Sequenzen, so schränkte das Tridentinische Konzil (1545-63) deren Zahl stark ein.
Theoretisch noch heute zugelassen sind in der Liturgie folgende fünf Sequenzen: Victimae paschali laudes (Ostern), Veni Sancte Spiritus (Pfingsten), Lauda Sion Salvatorem (Fronleichnam), Stabat Mater (Mariä Schmerzen) und das Dies irae (im Requiem). Geändert hat sich nach der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums der Platz der Sequenz in der Liturgie. Sie wird nun korrekt vor dem Halleluja gesungen. Praktisch sind die Sequenzen in der Liturgie unserer Tage leider in Vergessenheit geraten bzw. wurden sie in neuen deutschen Textliedern aufgegriffen und an anderer liturgischer Stelle verwendet.
Ein hymnischer Osterjubel
Der schriftstellerisch talentierte Hofkaplan mehrerer deutscher Saligerkaiser namens Wipo (gest. um 1050) ist Urheber der Ostersequenz, die sich zum Beispiel im neuen Gotteslob (GL 320) bis in unsere Zeit erhalten hat. In biblischer Sprache, mit Bildern und Metaphern wird die österliche Evangelienstelle Johannes 20,11-18 aufgegriffen und verarbeitet. Feierlich und dramatisch zugleich wirkt der dichterisch kunstvoll verdichtete Text. Quasi die ganze Heilsgeschichte findet in dieser schlichten Art der Betrachtung des Ostergeschehens eine Zusammenfassung, wird sozusagen Theologie konkret. Was immer Eingang in die Liturgie fand, hat einen besonderen Sitz im Leben der hörend Glaubenden, ist wirkungsvoller als noch so geschliffene theologische Abhandlungen und Traktate. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass das erste nachweisbare Kirchenlied in deutscher Sprache jenes von der Ostersequenz abgeleitete Christ ist erstanden (GL 318) bzw. in späterer Erweiterung Christus ist erstanden (GL 833) darstellt.
Vom Lamm und den Schafen
Similia similibus solvuntur – „Gleiches wird durch Ähnliches gelöst“, lautet ein Satz der Chemielehre. Eigentlich nicht unzutreffend für das Eintreten des Sohnes Gottes in die Zeit und Wirklichkeit des menschlichen Daseins. Wehrlosen Schafen gleich liegt das Menschengeschlecht aus eigener Schuld in der Verstrickung von Sünde und Tod. Christus, das ganz gehorsame Lamm Gottes, in allem uns gleich geworden außer der Sünde, vermag es aus dieser Misere zu lösen. Sich am Kreuz hingebend stiftet er Versöhnung mit dem Vater, vor dessen Liebe und Sehnsucht der Mensch bis zum heutigen Tag immer wieder eigensinnig und stur davonläuft. Der Erlöser ist sozusagen die bleibende Lösung für all jene, die sich versöhnen lassen wollen.
Ein Duell auf Leben und Tod
Im Erfahrungshorizont des Menschen scheint stets der Tod das letzte Wort zu haben. Noch ist keiner übrig geblieben, sagt man. Das Sterben lieber Menschen und das eigene Zugehen darauf macht selbst gut Gläubigen zu schaffen, empfindet man doch gerade die letzten Dinge so unbegreiflich und ungewiss. Allein der Blick in die Natur aber führt uns vor Augen, um wie viel stärker das Prinzip Leben ist: das Frühlingserwachen nach einem strengen Winter, der Löwenzahn, der selbst Asphalt zu sprengen vermag oder ein neugeborenes Baby, in dem die verstorbene Oma ein Stück weit lebendig bleibt. „Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden“ heißt es im Buch der Weisheit. Ja noch mehr hat er seinen Sohn, das Leben in Fülle, gesandt, um sich mit dem Tod zu duellieren, wie es in der Sequenz so eindrücklich auf den Punkt gebracht wird. Am Ostermorgen wird Jesus Christus diesen Widerstreit gewinnen und herrschen in unvergänglichem Leben, das er mit uns teilt.
Apostolin der Apostel
Im Mittelteil der Sequenz findet sich unerwartet eine Erweiterung um einen sehr persönlich gehaltenen Dialog mit Maria von Magdala als erster Zeugin des Auferstandenen. Mit diesem geschickten Kunstgriff bezieht Wipo den Gottesdienstbesucher direkt ein, wie in einem bibliodramatischen Osterspiel gewinnt die Sequenz, um es modern auszudrücken, Dreidimensionalität. Über diese Sequenz verstärkte sich daher in der Kirche die Verehrung der heiligen Maria Magdalena als eine ganz wichtige Figur, als „Apostolin der Apostel“, das heißt als Gewährsfrau für den Auferstandenen. Erst Papst Franziskus hat per Dekret aus dem Jahr 2016 darauf Bezug nehmend den Gedenktag der Heiligen am 22. Juli in den Rang eines liturgischen Festes erhoben. Bei der Generalaudienz vom 17. Mai 2017 ging der Papst auf Maria Magdalena ein. Sie stehe stellvertretend für alle Frauen, die regelmäßig den Friedhof aufsuchten und Verstorbene besuchten. Wahre Bindungen würden noch nicht einmal durch den Tod unterbrochen, stellte der Papst fest. Die Begegnung mit dem Auferstandenen habe sie geprägt und so zur Apostolin der neuen und größten Hoffnung werden lassen.
Der Auferstandene am Weg
Franz von Assisi hatte die Menschwerdung Gottes betrachtet als ein geboren werden für uns am Weg. Hier in der Ostersequenz geschieht wiederum göttliche Begegnung am Weg, impliziert in der Frage der Gemeinde an Maria Magdalena: Was hast du gesehen am Weg? Somit wird dem Glaubensgeschehen wiederum Wegcharakter verliehen. Glauben hat man nicht, es gilt ihn suchend unterwegs immer neu zu erfahren, geschenkt zu bekommen in der Begegnung mit Christus am Weg. Überhaupt hat Ostern offenkundig mit Bewegung zu tun: die Frauen und Jünger sind unterwegs zum oder vom Grab Jesu, zwei gehen nach Emmaus, und dann die Elf zurück nach Galiläa. Immer am Weg kommt Jesus, der Auferstandene, dazu und versucht den Seinen über alle Zweifel und durch alle Nebel der Traurigkeit und Enttäuschung hindurch klar zu machen: Ich bin es, fürchtet euch nicht!
Glaubendes Wissen
Fides et Ratio – „Glauben und Vernunft“ lautet eine Enzyklika von Papst Johannes Paul II. von 1998. Darin wird philosophisch wie theologisch ein Brückenschlag versucht zwischen zwei Welten, die nach modernem Denken scheinbar keine Berührungspunkte mehr haben, sich sogar gegenseitig widersprechen. Die Ostersequenz hingegen führt vom konkreten Zeugnis einer Frau, die freudig von ihrer persönlichen Begegnung mit dem Auferstandenen erzählt, zur dankbaren Annahme und zur Gewissheit, dass Jesus wirklich lebt. Hier wird deutlich, dass Glaube mit persönlicher Weg-Erfahrung zu tun hat, die es zu teilen gilt, und dass Kirche als Gemeinschaft der Suchenden, Hoffenden, Ringenden und Glaubenden gerade auch heute vom Zeugnis Einzelner lebt. Auch der Glaube lebt aus Erfahrungswerten, wie die Wissenschaft aus empirischer Erkenntnis, das heißt, es ist letztlich vernünftig, an den Auferstandenen und das bleibende Leben zu glauben.
P. Oliver Ruggenthaler OFM