Paulus – Informationen zu Person und Theologie des Apostels | Teil 6
Chronologie
Erst wenn es möglich ist, die wichtigen Ereignisse im Leben des Paulus einigermaßen sicher chronologisch zu bestimmen, sind damit Anhaltspunkte gegeben, um die Abfassungszeiten und -orte seiner Briefe angeben zu können. Die Schwierigkeiten dabei sind: Die Apostelgeschichte kann als primäre Quelle nicht benutzt werden, da sie das Wirken des Paulus an vielen Stellen legendenhaft ausmalt. Aber auch die Paulusbriefe selbst ermöglichen keine geschlossene Rekonstruktion einer Biographie. Da Paulus selbst in seinen Briefen keine absoluten Jahreszahlen nennt, gilt in der Forschung die Erwähnung des Prokonsulats des Gallio (Apg 18,12) in Korinth als das einzige absolute Datum für die Chronologie des Paulus, von welchem aus alle weiteren „relativen“ Datierungen berechnet werden müssen.
Sein Geburtsjahr ist unbekannt. Die Apostelgeschichte nennt als Geburtsort Tarsus in Zilizien: dass Paulus neben dem tarsischen auch das römische Bürgerrecht besessen habe, bleibt aus historischen Gründen aber unwahrscheinlich (trotz Apg 21,37–40). Nach Apg 18,3 hatte Paulus ein Handwerk gelernt, und zwar den Beruf eines „Zeltmachers“ (Hersteller von Sonnenschutzsegeln / Markisen). Aus seinen Briefen geht mehrfach hervor, dass er gearbeitet hat, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Über seine theologische Ausbildung erfahren wir wenig: nach Phil 3,5 war er Pharisäer; die Apostelgeschichte weiß darüber hinaus, dass er Schüler des berühmten Rabbi Gamaliel I. in Jerusalem gewesen sei (Apg 22,3).
Seine Briefe bezeugen jedenfalls, dass er von jüdischem Denken und jüdischer Theologie beeinflusst ist. Über seine Allgemeinbildung lässt sich wenig sagen: Tarsus war damals ein bedeutendes Bildungszentrum; von hellenistischer Bildungstradition wird jedoch bei Paulus nichts sichtbar. Er selbst äußert sich nur dann zu seiner Person, wenn dies im Zusammenhang mit theologischer Argumentation notwendig ist: 1 Kor 15; Gal 1 - 2; Phil 3 oder 2 Kor 11 – 12. Aus solchen Texten erfahren wir, dass Paulus sich vom Christenverfolger zum Christusbekenner gewandelt hat, Visionen und Offenbarungen Gottes erfuhr, die Charismen hatte, Wunder zu wirken und in Zungen zu reden, aber auch, dass ihm fehlende Rhetorik (und im Zusammenhang damit: fehlendes Pneumatikertum) vorgeworfen wurde. Rätselhaft bleibt 2 Kor 12,7 (vgl. Gal 4,13f; 6,17), wo ein körperliches Leiden angedeutet ist.
Bekehrung
Seine Bekehrung erwähnt Paulus Gal 1,15f; 1 Kor 9,1; 15,8 ohne zu erzählen, was dort geschah; die Erzählungen der Apostelgeschichte (9; 22; 26) sind deutlich sekundär. Historisch ist wohl die Ortsangabe Damaskus (und wohl die Existenz des Hananias, der Paulus taufte) sowie seine Flucht aus dieser Stadt. Hier ist auch der von Paulus beanspruchte und ihm (abgesehen von Einzelfällen) zugestandene Titel zu nennen: Apostel.
Paulus war zu Beginn seiner Missionstätigkeit offenbar „Beauftragter“ der Gemeinde von Antiochia. Er interpretiert sein Apostolat selbst als Beauftragung durch den auferstandenen Christus im Sinn der Apostel in Jerusalem (1 Kor 9,1; Gal 1,1.12). Von den in 1 Kor 12,28–30 aufgezählten Funktionen übt Paulus nicht nur die des Apostels aus: Er kann auch die Aufgaben des Propheten, des Lehrers und des für organisatorische Fragen zuständigen Gemeindeleiters übernehmen. Wegen seiner besonderen Berufung ist für ihn die Existenz als Wandercharismatiker, der auf den ihm zustehenden Unterhalt durch eine Gemeinde verzichtet, von Anfang an die einzig mögliche Art und Weise des Christseins (vgl. 1 Kor 9,14ff). Dieses radikale Wanderleben ist für Paulus auch die Ursache seiner Leiden, Entbehrungen und Nöte (vgl. 2 Kor 11,23–28), die durch Christus und die Gemeinschaft mit dessen Leiden geprägt sind.
Über die erste Phase seiner Wirksamkeit wissen wir wenig: Im Galaterbrief (Gal 1 – 2) gibt Paulus zwar einige konkrete Angaben, die aber eine Reihe offener Fragen hervorrufen. Auffällig ist, dass uns aus der Zeit vor dem sogenannten Apostelkonzil (Gal 2,1) keine paulinischen Zeugnisse über diese immerhin 14-jährige Tätigkeit erhalten sind.
Zeit nach dem „Apostelkonzil“
Mehr wissen wir über die Zeit nach dem sogenannten Apostelkonzil. Es ist die Zeit, aus der seine Briefe stammen: die Zeit seiner Gemeindegründungen und vieler Kontakte. Hier ist vor allem ein Ort wichtig geworden: Ephesus. Die zweieinhalb Jahre dort waren für das äußere und das innere Wachsen der paulinischen Mission und seiner Theologie von größter Bedeutung. In diese Zeit gehören die Kontakte und Auseinandersetzungen mit den Gemeinden in Korinth und in Galatien, das Ringen um die Festigung der Gemeinden, wohl eine lebensgefährliche Gefangenschaft und auch die Organisation der Kollekte. In diesen Jahren dürfte in Ephesus auch eine „Paulus-Schule“ herangewachsen sein, die nach dem Tode des Apostels in den sogenannten Deuteropaulinen sein Erbe bewahrt, auch durch Sammlung, Redaktion und Herausgabe seiner Briefe, von denen weitaus die meisten in Ephesus entstanden sind.
„Zeittafel“
Rabbi Gamaliel I., dessen Schüler Paulus gewesen sein soll, wirkte ca. 20–50 n. Chr. in Jerusalem. Das Damaskusereignis lässt sich in die Jahre zwischen 30 und 40 datieren; für das „Apostelkonzil“ divergieren in der Forschung die Angaben zwischen 43 und 50 (am ehesten 48); vorher war Paulus etwa fünf Jahre auf der sogenannten Ersten Missionsreise. In die Zeit zwischen 48 und 52 fällt die Zweite Missionsreise, in deren Rahmen sich Paulus ca. 18 Monate in Korinth aufhielt. Er traf dabei das Ehepaar Aquila und Priska, die wegen des kurz zuvor erlassenen Edikts des Kaisers Claudius (im Jahr 49) Rom verlassen mussten, und wurde dann vor dem Statthalter Gallio angeklagt, dessen Amtszeit sich inschriftlich für die Zeit vom Frühjahr 51 bis Frühjahr 52 datieren lässt.
Zwischen 51/52 und 56 befand sich Paulus auf seiner Dritten Missionsreise; in diesen Zeitraum fällt auch der etwa zweieinhalb Jahre dauernde Aufenthalt in Ephesus. Nach seinem letzten Besuch in Korinth reiste Paulus mit der Kollekte nach Jerusalem; dort wurde er verhaftet und vom römischen Prokurator zwei Jahre in Cäsarea in Haft gehalten (Apg 24,27). Nach dem Prokuratorenwechsel von Felix zu Festus zwischen 55 und 60 wurde er schließlich nach Rom gebracht, war dort wieder zwei Jahre gefangen (Apg 28,30f) und erlitt schließlich unter Kaiser Nero den Martyrertod: Nach alten (außerbiblischen) Traditionen ist er in Tre Fontane geköpft und dann in St. Paul vor den Mauern begraben worden. Die geplante Reise „ans Ende der Welt“ (Spanien; vgl. Röm 15,24) hat wahrscheinlich nicht mehr stattgefunden.
Wirkung
Paulus ist ein Bindeglied zwischen der Epoche Jesu und der Zwölf einerseits und der „nachapostolischen“ Zeit andererseits. Schon im NT selbst lassen sich die Anfänge der reichen Wirkungsgeschichte feststellen: Die sogenannte „Paulus-Schule“ (deuteropaulinische Briefe = Kolosserbrief, Epheserbrief, 2. Thessalonicherbrief; Tritopaulinen = Pastoralbriefe: Timotheusbriefe, Titusbrief) schreibt in seinem Geist und greift auf seine Autorität zurück. Sie interpretiert die Botschaft des Paulus in einer veränderten kirchengeschichtlichen Situation. Zusätzlich wurden seine Briefe (Römerbrief, zwei Korintherbriefe, Galaterbrief, Philipperbrief, 1. Thessalonicherbrief, Philemonbrief) in den Gemeinden gesammelt: 2 Petr 3,15f kennt bereits eine solche Sammlung, die neben den gesammelten Jesusworten und -überlieferungen zum Kernpunkt des urchristlichen Kanons wurde.
Univ.-Prof. Dr. Michael Ernst,
Universität Salzburg und Päpstliche Hochschule Heiligenkreuz