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»Und suchst du meine Sünde« (GL 274)
Jüdische Worte und Motive prägen jedes christliche Gesangbuch: von den Psalmen bis zum „Amen“ und dem „Halleluja“-Ruf. Im Gotteslob findet man aber nicht nur alttestamentlich inspirierte Worte, sondern auch jüdisch-orientalisch anmutende Klänge. Dieses Lied ist dafür ein gutes Beispiel. Am Anfang steht ein Gedicht. Der Autor der drei Verse wurde 1913 in einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus München als Fritz Rosenthal geboren. Schon als Jugendlicher wandte er sich dem orthodoxen Judentum zu. 1935 emigrierte er nach Jerusalem, wo er als Religionsphilosoph und Publizist wirkte. Seinen Namen änderte er in Schalom Ben Chorin, was „Sohn der Freiheit“ bedeutet; den neuen Vornamen „Schalom“ (Friede) versteht sein Träger als Übersetzung seines alten Vornamens, weil die Kurzform Fritz auf Friedrich bzw. Friedensreich zurückgeht. Schalom Ben-Chorin war Schüler des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, dessen berühmter Buchtitel „Ich und Du“ sich in diesem Lied unschwer ausmachen lässt. Mit seinen theologischen Publikationen und zahlreichen Vorträgen, etwa auf deutschen Kirchentagen, wurde Ben-Chorin zu einem wichtigen Wegbereiter der jüdisch-christlichen Begegnung und des interreligiösen Dialogs. Dutzende von Büchern, die er geschrieben hat, erlangten weite Verbreitung. Das Gedicht „Und suchst du meine Sünde“ hat Ben-Chorin in Jerusalem im Jahr 1950 verfasst. Er bezieht sich dabei auf Worte des spanisch-jüdischen Philosophen und Dichters Salomo Ibn Gabirol (ca. 1020–1058), bei dem zu lesen ist: „Und wenn Du mich tötest – ich hoffe auf Dich, / fragst Du nach meiner Schuld – flieh ich von Dir zu Dir / und berge mich vor Deinem Zorn in Deinem Schatten.“ Diese Verse werden in der Liturgie des jüdischen Versöhnungstages (Yom Kippur) rezitiert. Der biblische Hintergrund ist Psalm 139. Gottes Gegenwart ist allumfassend. Wer vor ihm flieht, der flieht zu ihm, weil Gott überall ist. Er ist Ursprung und Mündung, bisweilen fern und dann wieder nah. Doch immer da. Die zweite Strophe beschreibt den Menschen, der sich aus der Gottesnähe gleichsam herausdrehen will: „Wie ich mich wend und drehe“. Und doch kann er nicht aus Gottes Zuneigung herausfallen. Die letzte Strophe nennt weitere scheinbare Gegensätze, die in Gott aufgehoben sind: Er kennt meine Wege und mein Ruhen, er ist Gericht und Gnade. Die Sünde sucht er, um die Sünder zur Umkehr zu rufen. Dieses Lied kennt nur einen Gedanken: die Nähe Gottes. Das wird nicht lang und breit ausgeführt, sondern in den drei Strophen variierend vertieft. Am Ende steht die Quintessenz, die auch Überschrift sein könnte: „du und immer du“. Wie aber soll dieses Gedicht gesungen werden? Zusätzlich zu bereits vorhandenen Vertonungen hat der Regensburger Diözesanmusikdirektor Christian Dostal 2008 für das Gotteslob eine neue Melodie geschaffen. Dabei wählt er ein orientalisches Kolorit, was den Worten überaus gut entspricht und wie von ferne an synagogale Musik erinnert. Die erste und dritte Zeile entsprechen sich melodisch, ja sie sind identisch, bis auf den Beginn. Das könnte – in der Sprache der Musik – bedeuten: Welchen Weg das Gebet auch immer einschlägt, es gelangt zum einen Ziel, das „Du“ heißt. Die zweite Zeile will hoch hinaus, mit Sprüngen und ungewohnten Harmonien, mündet aber wieder in den Halbtonschritt b-a. Erst die letzte Zeile nimmt den kürzesten Weg zum Ziel. Wieder steht ein Halbtonschritt am Ende, aber dieses Mal gelangen wir über den etwas fremd und orientalisch anmutenden Ton es, der nur hier erklingt, in den Grundton. Das Ziel, die Begegnung von Mensch und Gott, von Ich und Du, ist in Wort und Klang erreicht.
Meinrad Walter