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»Tief im Schoß meiner Mutter gewoben« (GL 419)
Die 150 Psalmen des Alten Testaments sind das Lebensbuch, Liederbuch und Glaubensbuch des Volkes Israel. Zugleich wird der Psalter im Christentum zur unerschöpflichen Inspirationsquelle für Gedichte und vor allem für Musik: von der einstimmigen Gregorianik bis zur groß besetzten Psalmensinfonie. Ausgangspunkt dieses Psalmliedes ist der 139. Psalm.
Gleich die erste Zeile lässt aufhorchen:
„Tief im Schoß meiner Mutter gewoben, …“. Wer spricht so vom Wunder seiner Existenz? Wir hören den alttestamentlichen Sänger der Psalmen. „Ja, du bists, der bereitete meine Nieren, mich wob im Leib meiner Mutter!“ (Ps 139,13), so bildhaft und sprachkräftig übersetzt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber die hebräischen Worte ins Deutsche.
Das Geschenk des Daseins ist das Thema. So weit ich auch zurückschauen kann, nie bin ich nur Produkt meiner Eltern, der Verhältnisse oder gar des Zufalls, sondern Geschöpf Gottes. Entscheidend ist, dass er mein Leben wollte und es gut mit mir meint. So klingt die biblische Schöpfungsbotschaft – nicht nur auf den ersten Seiten des Alten Testaments im Buch Genesis, sondern auch im Psalter und im Neuen Testament.
Die Botschaft vom Ursprung muss immer wieder neu in die Gegenwart übersetzt und aktualisiert werden: in Theologie und Liturgie, aber auch in Bildern, Gedichten und Liedern. Dieses Lied stammt von dem Theologen und Lyriker Sytze de Vries (geb. 1945), der in Haarlem lebt. Der niederländische Organist und Komponist Willem Vogel (1920–2010) hat die Musik dazu komponiert. Jürgen Henkys (geb. 1929), Pfarrer und Theologe in Berlin, verdanken wir die behutsame deutsche Übertragung.
Dank heißt die erste und wichtigste Antwort.
Das Lied formuliert das mit ganz alltäglichen Worten, die jedoch tiefen Sinn gewinnen. Weil Gott mich persönlich ruft, hat sein Schöpferwort mich „gebaut“ und mein Name liegt ihm „auf der Zunge“ (vgl. Ps 139,4). Deshalb eignet sich dieses Lied besonders für Tauffeiern von Kindern oder Erwachsenen. Es entwirft keine Theorie über Mensch und Gott. Denn „zu wunderbar ist für mich dieses Wissen; zu hoch, ich kann es nicht begreifen“ (Ps 139,6). Also besser schweigen über dieses unergründliche Rätsel? Nein! Dichten und Komponieren, Singen und Sagen, das ist der Königsweg. Die ruhige Melodie, die nur Halbe- und Viertelnoten kennt, ist schlicht und eingängig. Zunächst tief in sich kreisend, schwingt sie sich zur Mitte hin auf, um dann in der Schlusszeile auf dem Grundwort »Liebe« den Höhepunkt zu erreichen.
Die fünf Strophen zeichnen den Lebensweg musikalisch nach, ja sie gehen ihn mit. Zwei Strophen spielen, wiederum in Anlehnung an Psalm 139, mit der Symbolik des Lichtes. Der Beginn jedes Tages erinnert mich daran, dass ich von Anfang an Geschöpf Gottes bin. Die mittlere Strophe führt die Lichtsymbolik weiter zum schöpferischen Wort Gottes: Mein Name in Gottes Mund lässt mich das Licht der Welt erblicken. Die beiden letzten Strophen widmen sich dem Lied und dem Gesang als Antwort auf Gottes Wort.
Am Ende verschränken sich die beiden Symbole Licht und Wort fast kontrapunktisch. Der dem Namen Gottes gewidmete Gesang aus Kindermund – hier klingt Psalm 8,3 an: „Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob“ – bezwingt die drohende Nacht, die symbolisch für alles Dunkle steht. Wie aber heißt der Name? Dieses komponierte Gebet spricht ihn – vielleicht im Blick auf die jüdische Tradition? – nicht vorschnell aus, sondern umkreist ihn poetisch. Am nächsten kommen wir ihm, wenn wir das Lied singen.
Meinrad Walter