Sonntag 24. November 2024

»Tief im Schoß meiner Mutter gewoben« (GL 419)

Worte: Jür­gen Hen­kys (nach Sytze de Vries); Musik: Wil­lem Vogel

Die 150 Psal­men des Alten Tes­ta­ments sind das Lebens­buch, Lie­der­buch und Glau­bens­buch des Vol­kes Israel. Zugleich wird der Psal­ter im Chris­ten­tum zur uner­schöpf­li­chen Inspi­ra­ti­ons­quelle für Gedichte und vor allem für Musik: von der ein­stim­mi­gen Gre­go­ria­nik bis zur groß besetz­ten Psal­mens­in­fo­nie. Aus­gangs­punkt die­ses Psalm­lie­des ist der 139. Psalm.

 

Gleich die erste Zeile lässt auf­hor­chen:

„Tief im Schoß mei­ner Mut­ter gewo­ben, …“. Wer spricht so vom Wun­der sei­ner Exis­tenz? Wir hören den alt­tes­ta­ment­li­chen Sän­ger der Psal­men. „Ja, du bists, der berei­tete meine Nie­ren, mich wob im Leib mei­ner Mut­ter!“ (Ps 139,13), so bild­haft und sprach­kräf­tig über­setzt der jüdi­sche Reli­gi­ons­phi­lo­soph Mar­tin Buber die hebräi­schen Worte ins Deutsche.

Das Geschenk des Daseins ist das Thema. So weit ich auch zurück­schauen kann, nie bin ich nur Pro­dukt mei­ner Eltern, der Ver­hält­nisse oder gar des Zufalls, son­dern Geschöpf Got­tes. Ent­schei­dend ist, dass er mein Leben wollte und es gut mit mir meint. So klingt die bib­li­sche Schöp­fungs­bot­schaft – nicht nur auf den ers­ten Sei­ten des Alten Tes­ta­ments im Buch Gene­sis, son­dern auch im Psal­ter und im Neuen Testament.

Die Bot­schaft vom Ursprung muss immer wie­der neu in die Gegen­wart über­setzt und aktua­li­siert wer­den: in Theo­lo­gie und Lit­ur­gie, aber auch in Bil­dern, Gedich­ten und Lie­dern. Die­ses Lied stammt von dem Theo­lo­gen und Lyri­ker Sytze de Vries (geb. 1945), der in Haar­lem lebt. Der nie­der­län­di­sche Orga­nist und Kom­po­nist Wil­lem Vogel (1920–2010) hat die Musik dazu kom­po­niert. Jür­gen Hen­kys (geb. 1929), Pfar­rer und Theo­loge in Ber­lin, ver­dan­ken wir die behut­same deut­sche Übertragung.

 

Dank heißt die erste und wich­tigste Ant­wort.

Das Lied for­mu­liert das mit ganz all­täg­li­chen Wor­ten, die jedoch tie­fen Sinn gewin­nen. Weil Gott mich per­sön­lich ruft, hat sein Schöp­fer­wort mich „gebaut“ und mein Name liegt ihm „auf der Zunge“ (vgl. Ps 139,4). Des­halb eig­net sich die­ses Lied beson­ders für Tauf­fei­ern von Kin­dern oder Erwach­se­nen. Es ent­wirft keine Theo­rie über Mensch und Gott. Denn „zu wun­der­bar ist für mich die­ses Wis­sen; zu hoch, ich kann es nicht begrei­fen“ (Ps 139,6). Also bes­ser schwei­gen über die­ses uner­gründ­li­che Rät­sel? Nein! Dich­ten und Kom­po­nie­ren, Sin­gen und Sagen, das ist der Königs­weg. Die ruhige Melo­die, die nur Halbe- und Vier­tel­no­ten kennt, ist schlicht und ein­gän­gig. Zunächst tief in sich krei­send, schwingt sie sich zur Mitte hin auf, um dann in der Schluss­zeile auf dem Grund­wort »Liebe« den Höhe­punkt zu erreichen.

 

Die fünf Stro­phen zeich­nen den Lebens­weg musi­ka­lisch nach, ja sie gehen ihn mit. Zwei Stro­phen spie­len, wie­derum in Anleh­nung an Psalm 139, mit der Sym­bo­lik des Lich­tes. Der Beginn jedes Tages erin­nert mich daran, dass ich von Anfang an Geschöpf Got­tes bin. Die mitt­lere Stro­phe führt die Licht­sym­bo­lik wei­ter zum schöp­fe­ri­schen Wort Got­tes: Mein Name in Got­tes Mund lässt mich das Licht der Welt erbli­cken. Die bei­den letz­ten Stro­phen wid­men sich dem Lied und dem Gesang als Ant­wort auf Got­tes Wort.

Am Ende ver­schrän­ken sich die bei­den Sym­bole Licht und Wort fast kon­tra­punk­tisch. Der dem Namen Got­tes gewid­mete Gesang aus Kin­der­mund – hier klingt Psalm 8,3 an: „Aus dem Mund der Kin­der und Säug­linge schaffst du dir Lob“ – bezwingt die dro­hende Nacht, die sym­bo­lisch für alles Dunkle steht. Wie aber heißt der Name? Die­ses kom­po­nierte Gebet spricht ihn – viel­leicht im Blick auf die jüdi­sche Tra­di­tion? – nicht vor­schnell aus, son­dern umkreist ihn poe­tisch. Am nächs­ten kom­men wir ihm, wenn wir das Lied singen.

Mein­rad Walter

 

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