Inhalt:
Herr, wenn du kommst (GL 233)
Ein Lied von Zeit und Ewigkeit
„Kommen“ ist ein wichtiges Wort des Glaubens, das gleichsam durch das gesamte Kirchenjahr hindurchklingt. Vom adventlichen „Komm, du Heiland aller Welt“ über das pfingstliche „Veni Creator Spiritus“ bis zum endzeitlichen Kommen, um das die letzten Worte des Neuen Testaments sehnlich bitten: „Komm, Herr Jesus“ (Offenbarung 22,20) – und zwar als Antwort auf Jesu Zusage „Ja, ich komme bald“.
Dieses Lied markiert den Übergang vom endzeitlich-königlichen Kommen des Herrn (Christkönig) zu seinem adventlich-zeitlichen Kommen (Erster Advent). Vom „Kommen“ hören wir im Lesejahr C am Ersten Advent auch in der zweiten Lesung: „… wenn Jesus, unser Herr, mit allen seinen Heiligen kommt“ (1 Thessalonicher 3), oder am Vierten Advent in der Lesung aus dem Hebräerbrief: „Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun“ (Hebräerbrief 10). Advent, das heißt auch: die Spannung aushalten zwischen dieser Verheißung des Kommens und der noch ausstehenden weihnachtlichen Erfüllung.
Von diesem Geist ist das adventliche Lied des Monats von Helga Poppe geprägt, ja durchstimmt.
Keine Vertröstung — "heute schon"
Autorin von Wort und Musik ist die heute im Ruhestand lebende Pädagogin Helga Poppe. Aus ihrer Feder stammen etwa 240 Lieder, von denen „Du bist das Licht der Welt“ wohl das bekannteste ist. „O Herr, wenn du kommst“ ist kurz vor Advent 1975 entstanden. Zahlreich sind die biblischen Inspirationen. Vor allem hören wir ein Echo des Gleichnisses von den klugen und törichten Jungfrauen (Matthäus 25). Als damals der Herr und Bräutigam kam, waren nicht alle bereit. Doch der Horizont ist noch weiter, biblisch wie in diesem Lied. Jesu Kommen ist gleich in der ersten Liedzeile ein Ereignis für die „Welt“. Sie wird erneuert von dem, der sagt: „Seht, ich mache alles neu“ (Offenbarung 21,5).
Dann folgt eines der erregendsten Themen der Reich-Gottes-Botschaft des Neuen Testaments, nämlich deren Spannung zwischen „Schon“ und „Noch nicht“. Die Autorin will keine Vertröstung auf das Jenseits und schärft deshalb das „heute schon“ ein. Und sind nicht die törichten Jungfrauen über dieses „Heute“ sozusagen gestolpert? Grundsätzlich waren sie ja bereit, nur nicht hier und heute.
Zwischen Schöpfung und Erlösung
Die dritte Strophe nennt Schöpfung (Gottvater) und Erlösung (Christus), die letzte Strophe dann die Vollendung im Bild vom „Fest ohne Ende“. Sozusagen dazwischen steht das Leid, das nicht verharmlost werden darf. Auch der Glaube kann es nicht zum Verschwinden bringen, aber „es wird von deiner Klarheit durchstrahlt“ – eine gelungene Kurzformel der Passionstheologie. Die vierte Strophe nimmt nochmals das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen auf, denn nun identifizieren die Singenden sich mit jenen: „Wir laufen voll Freude den Weg auf dich zu“.
Die Musik dieses Liedes ist ebenso erwartungsvoll wie die Worte.
Der signalhaft aufsteigenden Quart am Beginn entspricht die absteigende Quart nach der ersten Atemzäsur zu „denn heute schon …“. Ungewöhnlich ist die wiederholte Schlusszeile, die ebendieses Intervall der Quart nun mit Tonschritten ausfüllt. Allerdings sind es nicht die Töne, die man von der Harmonik des bisherigen Liedes, das in Moll steht, erwartet. Es erklingt nämlich – leicht erkennbar an den Kreuz-Vorzeichen – ausschnitthaft eine Dur-Tonleiter, die alles in ein anderes Licht rückt. Zielstrebige Gewissheit steht am Ende jeder Strophe, fast wie ein Gelöbnis. Alle Inhalte des Glaubens, so wichtig sie auch sind, erklingen zusammengefasst in diesem entscheidenden Gestus des Glaubens und Hoffens: „O Herr, wir warten auf dich. O Herr, wir warten auf dich“.
Kein passives Warten
Das „Warten“ ergänzt das erste Stichwort des „Kommens“. Die Musik besagt, dass es keineswegs passiv zu verstehen ist. Wenn jeweils der Grundton erreicht und bestätigend ausgehalten wird, darf ein Vorgeschmack des erhofften Zieles musikalisch schon ausgekostet werden.
Meinrad Walter