Donnerstag 21. November 2024

"Für wahr, er trug unsre Krankheit" GL 292

(Worte: Eugen Eckert [1986] 1987; Musik: aus Chile)

Leiden, Sterben und Auferstehung

des Gottessohnes, das sind klangvolle Themen der Kirchenmusik. Dieses vor etwa 30 Jahren entstandene Lied reiht sich ein in die Tradition protestantischer Passionslieder. Im Mittelpunkt steht aber nicht die neutestamentliche Leidensgeschichte, sondern das vierte Lied vom Gottesknecht aus dem alttestamentlichen Prophetenbuch Jesaja (Kapitel 52,13–53,12).

Die Jesajaworte vom leidenden Gottesknecht sind neben Psalm 22 mit seinem von Jesus am Kreuz aufgenommenen Schrei „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ besonders eindrückliche Passionsverse aus der hebräischen Bibel. Dunkel bleibt letztlich, wer dieser „Knecht Gottes“ ist: eine Einzelgestalt, oder kollektiv das Volk Israel? Einzigartig im Alten Testament ist überdies, dass der Gottesknecht stellvertretend für andere leidet, was in das Bekenntnis mündet: „durch seine Wunden sind wir geheilt“.

 

Christus als leidender GottesknechtAll dies hat es den Christen erleichtert, ihren Messias Jesus Christus mit dem leidenden Gottesknecht zu identifizieren. Deshalb hören wir das vierte Gottesknechtslied in der Liturgie vom Leiden und Sterben des Herrn am Karfreitag. Zahlreich sind zudem die Vertonungen in der protestantischen Kirchenmusik, etwa von Georg Friedrich Händel im Passionsteil seines Oratoriums über den „Messias“ sowie in zahlrei- chen Motetten mit dem Titel „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“, etwa von Melchior Franck (1636) oder von Hugo Distler (1941).

 

Ein Text von Eugen EckertEugen Eckert, geb. 1954, war zunächst Sozialarbeiter in seiner Heimatstadt Frankfurt, dann evangelischer Pfarrer in Offenbach und Studentenseelsorger an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität. Seit 2007 ist er überdies Stadionpfarrer der Frankfurter Commerzbank-Arena. Aus seiner Feder stammen die Texte zu etlichen kirchenmusikalischen Werken, sowie mehr als tausend Lieder. Darunter sind „Meine engen Grenzen“ und „Wäre Gesanges voll unser Mund“.

 

Ein neues "Lied vom Gottesknecht"Im dreistrophigen Lied „Fürwahr, er trug unsre Krankheit“ greift Eckert Motive des vierten Gottesknechtsliedes auf. Das „für uns“ (pro nobis) steht als Kehrvers am Anfang jeder Strophe. Dann entfaltet sich eine poetisch-musikalische Skizze der Passion aus alt- und neutesta- mentlichen Strichen. Strophe 1 führt bis zur Dornenkrönung, die zweite dann bis zum Lanzenstich in die Seite des Gekreuzigten. Beide Strophen münden in das Passionsbild vom unschuldigen Lamm (Jesaja 53,7 und Johannes 1,29) als Sinnbild nicht nur für den liebenden Menschen, sondern für den „liebenden Gott“ (Strophe 1 und 3).

 

Am Ende der mittleren Strophe nennt das Lied ihn den „gekreuzigten Gott“. Im Hintergrund steht hier ein bei dem jüdischen Schriftsteller und KZ-Überlebenden Elie Wiesel überliefertes Zeugnis. Der Friedensnobelpreisträger berichtet von der qualvollen Hinrichtung eines Kin- des im KZ Buna und von der bedrängenden Frage „Wo ist Gott?“ Wiesels Antwort, die er als innere Stimme gehört hat, heißt: „Dort, dort hängt er, am Galgen …“ – der gekreuzigte Gott.

 

Die dritte Strophe ergänzt die vorigen um den Aspekt der persönlichen Aneignung. Die ungewohnte Formulierung „er steht auf zur Seite der Armen, der Kleinen“ ist eine theo-poetische Mixtur aus „er steht auf, da Gott ihn auferweckt hat“ und „er steht fest an der Seite der Bedrängten“. Auferstehung und Solidarität gehören zusammen! Eugen Eckert bezieht sich mit dem Wort „er steht auf“ auch auf lateiname- rikanische Beerdigungsrituale, auf die ihn die Theologin Dorothee Sölle hingewiesen hat.

Die Melodie mit einem weiten Ambitus stammt aus Chile. Der erste Teil ist von einem fanfarenhaften Tonleitermotiv geprägt, das gleich in den Anfangstakten eine Oktav durchmisst. In Takt 9 setzt ein neuer Rhythmus ein, und am Ende bricht die Wiederholung der letzten Takte aus dem periodischen Schema aus. Vor allem aber wird der melodische Umfang von Zeile zu Zeile geringer, wie eine Beruhigung. Die poe- tische Struktur zeichnet in den Schlusstakten den theologischen Gehalt präzise nach. Am Anfang steht „der liebende Gott“ (Strophe 1), der aus Liebe seinen Sohn dahingibt am Kreuz: „der gekreuzigte Gott“ (Strophe 2). So beglaubigt Gott seine Liebe, die in seinen Jüngerinnen und Jüngern weiterlebt, wenn auch sie als Geheilte und Erlöste Zeugnis geben vom „liebenden Gott“ (Strophe 3).

 

Meinrad Walter

 

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