Inhalt:
„Erhör, o Gott, mein Flehen“ GL 439
Flehen ist existenziell
Haben Sie schon einmal wirklich gefleht? Hinter dem Flehen steckt etwas Existentielles. Es geht es nicht um etwas, das ich mir erbitte, es geht um mich selbst als Person, die in Gefahr ist.
Der Text dieses Liedes, das zu den ökumenischen Gesängen im Gotteslob zählt, ist Edith Stein zugeschrieben. Die Psalmen sind ihr von Kindheit an vertraut und Teil ihres Lebens geworden. 1933 tritt sie in den Kölner Karmel ein, am 7. August 1942 wird sie nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie am 9. August umkommt. Der auf Psalm 61 fußende Text soll 1936 entstanden sein, als die „dunkle Nacht“ schon deutlich spürbar war. Die von Roman Schleischitz 2009 verfasste, jüdisch anmutende Melodie verbindet berührend das drängende Flehen mit einer Spur von Zuversicht inmitten der Gefahr.
Beterin geht nicht in Leere
Mit den Worten „Erhör, o Gott, mein Flehen, hab auf mein Beten Acht!“ rechnet die Beterin mit einer Resonanz Gottes. Sie schreit nicht ins Leere. Gott sieht mich auch in der schwärzesten Finsternis, in der tiefsten Traurigkeit meiner Seele – vielleicht von Ferne aber dennoch: „du sahst von fern mich stehen…“
Mit der Bitte um festen Boden unter den Füßen beginnt sich die Stimmung zu ändern: „auf dich ich hoffend sehe – du lenkst und leitest mich.“ Die Erfahrung der Sicherheit in Gott wird mit Bildern weiter ausgeführt: „Du bist gleich einem Turme, den nie ein Feind bezwang, ich weiche keinem Sturme, bei dir ist mir nicht bang.“ Diese Zuflucht bietet Schutz selbst vor inneren Gefahren: Wenn die Stürme der Zweifel sich ankündigen, Ängste sich breit machen, Vertrauen ins Wanken kommt, Beziehungen zerbrechen, dann brauche ich festen Boden, der mich hält.
„Mein Bitten hast erhöret, mein Gott, in Gnaden du.“
In der dritten Strophe ändert sich die Stimmung der Beterin. „Mein Bitten hast erhöret, mein Gott, in Gnaden du.“ Wir wissen nichts davon, dass sich nach außen etwas verändert hätte aber indem sie sich „freigebetet“ hat, sind Vertrauen und Ruhe in die Seele eingekehrt. „Wer deinen Namen ehret, dem fällt dein Erbe zu. So schenke langes Leben, dem, der sich dir geweiht, wollst Jahr um Jahr ihm geben, ihn segnen allezeit.“
Die vierte Strophe zielt auf Verkündigung. Der Wunsch nach Zukunft übersteigt das irdische Leben. „Vor Gottes Angesichte steh‘ er in Ewigkeit.“ Auf Grund der eigenen Erfahrung wagt sie es, den anderen zuzurufen: „Es wird ja nie zunichte des Herrn Barmherzigkeit.“ Dieses Vertrauen motiviert zum Versprechen: „So will dein Lied ich singen, wie ich es dir versprach, mein Lobesopfer bringen von Neuem Tag um Tag.“
Wir wissen, dass Edith Stein umgekommen ist. War ihr Beten, ihr Vertrauen umsonst? Edith Stein ging erhobenen Hauptes in die Deportation. Wie viele Märtyrer bezeugte sie durch ihre Stärke die Gegenwart Gottes in der konkreten Situation.
Ist unser Vertrauen, mit dem wir uns an Gott wenden, umsonst, wenn Hilfe nicht so geschieht, wie erwartet? Wie dieses Erhören Gottes in unserem Leben aussieht, wissen wir nicht. Aber dass er uns hört, dass er ein Gott der Geschichte ist, der uns den Rücken stärkt und uns nicht im Stich lässt, ist unser Glaube.
Sr. Johanna Kobale SDR