Inhalt:
Du Kind, zu dieser heilgen Zeit (GL 254)
Am Dienstag, den 11. Januar 1938 vertraute Jochen Klepper (1903–1942) seinem Tagebuch – auszugsweise erstmals veröffentlicht 1956 mit dem Titel „Unter dem Schatten deiner Flügel“ – zwei auch für dieses Lied wichtige Sätze an. Die erste Bemerkung umschreibt sein Verständnis von Liedern: „Kirchenlieder sind immer wieder nur ein großes Buch: dahin verdichten sich alle meine Wünsche.“ Klepper fügt seine Lieder in das „große Buch“ ein, das von den Psalmen über die altkirchlichen Hymnen und Luthers Choräle bis zur Gegenwart reicht. Und bei den „Wünschen“ nennt er eine Frage, die ihn umtreibt: „Die entscheidende Frage bleibt, ob ich jemals den Weg ins Gesangbuch finde.“ Kleppers Lieder haben diesen Weg gefunden, sogar mit einer ökumenischen Abzweigung! Ein Dutzend seiner Lieder stehen heute im Stammteil des Evangelischen Gesangbuchs und ein halbes Dutzend finden wir im katholischen Gotteslob.
Jochen Klepper — voll Hoffnung auf Vollendung
Der aus Schlesien stammende Jochen Klepper, 1903 in Beuthen an der Oder geboren, arbeitete vor und nach seinem erfolgreichen Roman „Der Vater. Roman des Soldatenkönigs“ (1937) journalistisch für Print und Rundfunk. Doch bald machte seine Heirat mit der verwitweten Jüdin Johanna Stein-Gerstel (1890–1942) ein berufliches Fortkommen im nationalsozialistischen Deutschland unmöglich. Die Bedrängnis der Eltern mit der jüngeren Tochter Renate, genannt Renerle, aus Hannis erster Ehe – die ältere Tochter Brigitte konnte kurz vor Kriegsausbruch über Schweden nach England ausreisen – wurde so unerträglich, dass sie ihrem Leben in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1942 selbst ein Ende setzten. Es war wohl, inmitten aller Schrecken, ein Ende in tief gläubiger Hoffnung auf Vollendung.
Kleppers geistliche Lieder sind der Inbegriff biblisch inspirierter Dichtung in lutherischer Tradition. Im Dezember 1937 gelingen ihm drei Lieder, von denen zwei besonders bekannt geworden sind. Am 18. Dezember entsteht „Die Nacht ist vorgedrungen“, das bereits im ersten Gotteslob stand. Zwei Tage später, am 20. Dezember, dann „Du Kind, zu dieser heilgen Zeit“. Beide Lieder erschienen erstmals gedruckt im September 1938 in Kleppers Liedsammlung „Kyrie“. Die Überschrift unseres Liedes heißt „Weihnachts-Kyrie“. Überdies stellt Klepper Worte aus Lukas 2,7 voran: „Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn ein eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“
Von der Krippe über das „gähnende Grab“ bis zur ewigen Schau „von Angesicht zu Angesicht“
Dieses Lied besingt – ausgehend auch von den Credo-Worten „geboren“ und „gelitten“ – die Menschwerdung Gottes umfassend: von der Krippe über das „gähnende Grab“ bis zur ewigen Schau „von Angesicht zu Angesicht“, die zum Gesang des neuen Liedes „befreit“. Ein Kontrapunkt also zur weihnachtlichen Idylle! Aber so haben viele Künstler Weihnachten verstanden. Man denke nur an Dürers Holzschnitt der Geburt Christi mit kreuzförmigem Gebälk des Stalles oder an Olivier Messiaens „Betrachtung des Kreuzes“ inmitten einer weihnachtlichen Klaviermusik.
Auch die Liturgie kennt diesen Zusammenhang, denn „schon am zweiten Weihnachtstag“ legt sie „die weißen Festgewänder ab“ (Edith Stein), um das Gedächtnis des ersten Märtyrers Stephanus zu begehen. Vielleicht ist Kleppers Lied, nach einer kurzen Einführung, ein Kyrie-Gesang für den Stephanstag. Eine von Kleppers kritischen Zeilen „Die Feier ward zu bunt und heiter, mit der die Welt dein Fest begeht“ inspirierte Liedpredigt könnte das noch unterstützen. In der letzten Strophe weitet sich der Ruf um Erbarmen zum „Hosinanna“: „Herr, hilf doch!“ Das „Halleluja“ schweigt in diesem Lied, dessen Autor von den Nationalsozialisten mit Schreibverbot belegt war. Die archaisch wirkende Melodie des evangelischen Pfarrers und Musikers Friedrich Samuel Rothenberg (1910–1997) kommt den Worten Kleppers entgegen.
Meinrad Walter