Donnerstag 21. November 2024

Bleib bei uns, Herr (GL 94)

Text, 1. Str.: Franz-Josef Rahe; 2.-3. Str.: Paul Ringseisen; Melodie u. Satz: William Henry Monk

Karfreitagserfahrung

Gerne möchte ich Sie einladen, sich mit mir auf eine Phantasiereise zu begeben.

Vor wenigen Tagen haben Sie schreckliche Dinge erlebt; alles ist zusammengebrochen, was Ihnen lieb und wert war. Gemeinsam mit einem Freund, der die gleichen Erfahrungen gemacht hat, machen Sie sich auf den Weg. Sie wissen, es wird ein längerer Fußmarsch. Irgendwann löst sich die Zunge, Sie beginnen zu reden von all dem, was Sie erschreckt und belastet hat, was nicht zu verstehen war, und was das Leben des Menschen gekostet hat, zu dem Sie aufgeblickt haben, der Sicherheit, Vertrauen und Wegweisung vermittelt hat. Er ist nicht mehr.

 

Ostererfahrung

Irgendwann gesellt sich ein Dritter zu Ihnen. Er hört zu, fragt nach, interpretiert, erklärt. Sie nehmen wahr, dass sich in Ihnen etwas verändert, leichter wird, entspannter, in irgendeiner Form einfach gut.

Die Sonne sinkt, Sie sind am Ziel angekommen, wollen aber dieses neue gute Gefühl, dieses Berührtsein von dem, was der Andere sagt und wie er ist, nicht verlieren.

„Bleib bei uns“ sagen Sie, „ es wird bald dunkel.“ – Und irgendwie meinen Sie mehr als nur den täglichen Sonnenuntergang. – Sie haben das Dunkel ja kennengelernt - in gerütteltem Maß.

Der Andere bleibt, setzt sich hin. Und dann bricht er Brot und verteilt es ….

Eine kleine Geste ist es, die das Erkennen bewirkt. Eine kleine, vertraute Geste, ein Ritual, bewirkt mehr als Worte und Erklärungen.

Es gehen Ihnen die Augen auf – und das Herz. Plötzlich ist nichts mehr so, wie es vorher war.

Der Andere ist verschwunden. – Die Freude ist geblieben. Und diese Freude muss geteilt werden. Gemeinsam mit dem Freund wandern Sie zurück – um das Unerklärbare aber dennoch selbst Erlebte mit den anderen zu teilen. – Was ist vom eigentlichen Leben denn schon erklärbar…

Sie haben recht. – Es ist die Emmausgeschichte in Lk 24, in die ich Sie jetzt entführt habe. Sie ist die Grundlage für unser Lied aus dem Gotteslob. – „Bleib bei uns Herr, die Sonne gehet nieder“. Die ruhigen Halben des Metrums vermitteln eine Atmosphäre des Ankommens, des Entspannens und der Möglichkeit, das Herz zu öffnen.

 

Verweilen in der Gegenwart Jesu, des Auferstandenen

Nach einem anstrengenden Tag tut es gut, zu verweilen, Geborgenheit zu erleben, das wahrzunehmen, was in der Hektik des Tages untergegangen ist.

Die Gegenwart Jesu wird vorausgesetzt – denn nicht die Bitte, dass er kommen möge um uns zu helfen ist es, sondern, dass er bleiben möge, um uns inneren Frieden und Ruhe zu schenken. Das Ende der zweiten Strophe ist eine Anspielung auf den Aaronsegen im Alten Testament  – „Der Herr lasse sein Angesicht über euch leuchten und schenke euch Frieden.“

In der dritten Strophe geht es konkret um unsere Situation – Bleib bei uns im Dunkel unserer Sorgen. Gott ist Licht und Hoffnung, schenkt Erholung, Kraft und neue Zuversicht. Das Ende der Strophe spielt auf das große Dunkel am Ende des Lebens an, das wir durchschreiten müssen um zu einem Licht zu gelangen, das „niemals mehr erlischt“.

Oftmals wiederholen wir im Liedtext „Bleib bei uns Herr“. Dies setzt aber voraus, dass auch wir bleiben – dass wir nicht davonrennen in der Hektik unserer Tage, sondern stehenbleiben, um wahrzunehmen – uns selbst – unser Leben – und den, der es in seiner Hand hält.

Ich denke, er lässt sich nicht zweimal bitten, bei uns zu bleiben.

In der Nummer 325 finden wir die gleiche Perikope der Emmausgeschichte, aber in einer anderen Facette.

Hier heißt es „Bleibe bei uns, du Wandrer durch die Zeit.“ – Es ist Jesus, der immer mit uns geht - damals wir heute, – unerkannt und immer neu. Das Teilen von Brot und Wein ist auch hier das zentrale Erkennungszeichen. In der Eucharistie ist Jesus uns nahe. Die zweite Strophe beginnt mit einem Bekenntnis: „Weit war der Weg. Wir flohen fort vom Kreuz.“ – Das vor Sehnsucht brennende Herz gilt als Zeichen dafür, dass Jesus uns dennoch niemals losgelassen hat, sondern selbst in der Zeit der Ferne und des Weglaufens gehalten und geführt hat. Das Wort aus Psalm 139  kommt mir in den Sinn – „Wohin sollten wir fliehen vor deinem Geist“ – und dann „du bist vertraut mit all meinen Wegen“.

Die Scham über die Flucht vor dem Kreuz wird übertönt durch die Sehnsucht nach Begegnung und Gemeinsamkeit. „Weihe uns ganz in dein Geheimnis ein“. – Es ist die Kunst, Ihm in der Eucharistie bewusst zu begegnen, Ihn wieder zu erkennen – unverhofft – wie damals die verzweifelten Jünger. Und wieder klingt wie im Abendlied Nr. 94 in der letzten Strophe der Ausblick auf den „letzten Abendschein“ an. Voll Hoffnung wollen wir dann auf diese Offenbarung Antwort geben und formulieren bereits jetzt unser Bekenntnis: „lebend und sterbend bleiben wir in dir“.

 

Sr. Johanna Kobale, Sr. vom Göttlichen Erlöser

 

 

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